
Peter Eberli, Mobilec E-Mofa Entwickler
Zu Fuss ist man zu langsam und mit dem Zug zu schnell und deshalb entschied ich mich per Velo meinen nahe bei den Pyrenäen wohnenden Schulfreund Walti zu besuchen. Ich plante die Reise von Neuenburg aus über das Massiv Central Richtung Süden nach Carla Bayle zu unternehmen.

Bereits vier Tage war ich jetzt schon auf schmalen verkehrsarmen Strassen und Wegen unterwegs, eine herrliche Veloreise bei schönstem Wetter die nicht nur meine Beinmuskulatur zu stählen begann sondern auch meinen Gwunder nach Sehenswürdigkeiten voll befriedigte. Am 21. September 1996 übernachtete ich in der Jugendherberge von Clermont-Ferrant. Als ich dann früh morgens mein Velo aus dem Schuppen schob, entdeckte ich, dass das Wetter über Nacht sehr zu meinem Nachteil von schön auf dunkelgrau mit kühlem Rieselregen gewechselt hatte. Trotzdem wollte ich heute die etwa 100 Kilometer bis nach Le Mont-Dore zurücklegen um dort auch wieder in der Jugendherberge übernachten zu können. Erst nachdem ich bereits etwa eine halbe Stunde unterwegs war, stellte ich fest, dass ich wohl für schönes aber ganz und gar nicht mehr für regnerisches Wetter ausgerüstet war. Irgendwo musste ich meine Windjacke liegen gelassen haben und der leichte und einzige mitgeführte Pullover benahm sich wie ein Schwamm, er saugte das Regenwasser begehrlich auf! Glücklicherweise erzeugte der Anstieg ins Massive Central schon bald die notwendige mir über das Frösteln hinweg helfende Körperwärme. Ein jämmerlicher Tag der für jeden normal denkenden Mensch als völlig ungeeignet zum Velofahren erscheinen musste. Aber es sind auch solch jämmerliche Tage die unvergessliche stimmungsvolle Eindrücke hinterlassen wie sie eben nur in Nebel verhängten nasskalten Wäldern entstehen können.

Die Strasse führte mehr und mehr durch tief eingeschnittene und stark bewaldete Gegenden und war zeitweise so steil, dass ich mein Velo schieben musste. Ich konnte mir nur äusserst kurze Verschnaufpausen gönnen da die Kälte sofort unangenehm durch den nassen Pullover bis auf die Knochen durchdrang. Trotzdem genoss ich die Stille die nur durch die von den Bäumen fallenden Regentropfen unterbrochen wurde. Unzählige Blätter bedeckten die Strasse und höchste Vorsicht war geboten um nicht auszurutschen. Ich war nun schon beinahe sechs Stunden unterwegs und hatte eben die Ortschaft Orcival passiert. Von hier aus galt es jetzt das letzte Teilstück hinauf zu einem 1257 Meter hohen auf meiner Karte namenlos eingezeichneten Pass zu bewältigen. Da ich zeitlich nicht schlecht daran war, freute ich mich auf eine frühe Ankunft in Le Mont-Dore um diesen im Gebirge liegenden Ort mit dem interessant klingenden Namen näher auszukundschaften können. Wieder musste ich eine schmale glitschige Strasse mit recht saftigen Steigungen unter die Räder und oft auch unter meine Füsse nehmen. Eine halbe Stunde nach Orcival überholten mich zum ersten Mal zwei hintereinander fahrende Autos. Bald verhallten diese Zivilisationsgeräusche in der Ferne und in der wiedergefundenen Stille folgte ich der nun etwas weniger steilen Strasse. Links begleitete mich eine dicht bewaldete Bergwand welche oben vom Regennebel verschluckt wurde. Rechts konnte ich zeitweise durch die zahlreichen Bäume und Büsche tief unten einen Tobelbach erspähen. Das Tageslicht drang nur mit Mühe durch die Regen durchsetzten Nebelschwaden und Baumkronen und die wilde Natur erschien mir als ein schauerlich schönes Schauspiel. Die Strasse kurvte jetzt oft um Felsvorsprünge herum und war beinahe eben. Das animierte mich zu flotter Fahrt da sich meine Beinmuskulatur mitunter gut ans Treten und mein Hinterteil an den Sattel gewöhnt hatten ohne mehr lästige Schmerzsignale auszusenden wie das noch während den ersten Reisetagen der Fall war. Auf einem geraden Strassenstück entdeckte ich in einiger Entfernung ein Auto das mitten auf der Strasse stand. Beim näher kommen, trat plötzlich eine nervös gestikulierende Person hervor. Es war ein betagter Mann, äusserst erregt, der kein Wort über die Lippen brachte. Zuerst dachte ich an eine Reifen- oder Motorpanne. Aber dann zeigte er zitternd zum Bach hinunter und schliesslich gelang es ihm herauszustottern, dass der vor ihm fahrende Wagen plötzlich von der Strasse abgekommen und ins Tobel hinunter gestürzt sei. Vorsichtig beugte ich mich über den Strassenrand hinaus und starrte erschrocken in der vom Mann angezeigten Richtung. Auf der äusserst steilen Böschung liessen sich keine Radspuren entdecken und erst nach genauem Nachsehen konnte ich weit unten ein Auto ausmachen, das zwischen zwei Bäumen mit den Rädern nach oben eingeklemmt war. Völlig unerwartet wurde ich in eine unglaubliche Situation verwickelt die eine blitzschnelle Handlung erforderte. Ich musste hinuntersteigen zu diesem Auto, koste es was es wolle. Der betagte Mann war dazu unfähig, also musste ich es tun. So bat ich den alten Herrn sofort ins nächste Dorf zu fahren um dort einen Krankenwagen aufzubieten. Ich würde zur Markierung der Unfallstelle mein Velo auf der Strasse belassen. Als der Mann nach einigem Zögern dann endlich wegfuhr, hoffte ich innigst, dass nicht auch er noch in seiner Aufregung ins Tobel stürzen würde. Und dann war es wieder absolut still um mich herum und erst jetzt begriff ich, dass ich mich in einer schrecklichen und gefährlichen Situation befand. Ich musste mir auf die Brust klopfen um sicherzustellen, dass ich nicht in einen Traum verfallen war. Es regnete wieder stärker, es war grau und kalt, der Abhang war steil und wasserdurchtränkt und unten lag ein Auto dessen Insassen vielleicht noch lebten oder aber auch schon tot waren.


Sofort setzte ich zum Abstieg an. Mit dem Bauch zum Abhang gerichtet, versuchte ich mit den Füssen auf mehr oder weniger sicheren Baumwurzeln Halt zu finden und mich mit den Händen an glitschig nassen Grassbüscheln zu sichern. Vorsichtig rutschte ich hinunter. Ich achtete darauf unter mir immer einen Baum zu wissen der mich im schlimmsten Fall hätte auffangen können. Es schien mir eine Ewigkeit zu dauern bis ich die 50 Meter Höhendifferenz endlich bewältigt hatte und mich nun nahe beim Auto befand. Das am Hang anliegende Dach war leicht eingedrückt und die Türe auf meiner Seite offen und halb von der Karosserie weggerissen. So konnte ich ins Wageninnere schauen. Niemand befand sich darin! Konnten sich die Insassen selbst befreien oder wurden sie hinausgeschleudert? An einen Baum geklammert suchte ich die umliegenden Büsche nach Überlebenden ab, konnte aber niemanden entdecken. Es war eine unheimliche Situation. Ich musste weiter zum Bach absteigen, nur dort konnten sich die Opfer lebend oder tot befinden, denn es war unvorstellbar, dass die Insassen nach einem derartigen Sturz die Kraft gehabt hätten über die Steilwand wieder nach oben auf die Strasse zu klettern.
Ich fasste neuen Mut und liess mich sachte weiter nach unten gleiten. Die Kälte drang unaufhaltbar durch meine zu dünnen nassen Kleider. Der ganze Körper begann zu schlottern, aber ich wusste, dass der Mensch in solchen Situationen unglaublich viel aushalten konnte und nicht klein beigeben durfte. Ich befand mich nun etwa fünf Meter unter dem eingeklemmten Auto und legte hier angelehnt an einen Wurzelstock eine Verschnaufpause ein. Ich musterte das schroffe Gelände rund um mich herum und dann, es durchfuhr mich wie ein Blitz, entdeckte ich nur drei Meter von mir entfernt ein schneeweisses Gesicht das zu einem zwischen zwei Büschen eingeklemmten menschlichen Körper gehörte! Hätte ich diesen Moment als Leser eines Buches erlebt, wäre ich zutiefst erschüttert gewesen aber jetzt wo ich mich der Wirklichkeit gegenüber befand, liessen mich die Gedanken wie ich jetzt helfen konnte alles andere vergessen. Vielleicht befand ich mich nicht einer Leiche sondern einem Menschen gegenüber in welchem möglicherweise noch Leben vorhanden war. Leben das es jetzt um jeden Preis zu erwecken galt. Vorsichtig schob ich mich bis vor das weisse Gesicht vor, bis ich eine Hand sachte auf dessen Stirne legen konnte. Diese war noch kälter als meine eisige Hand, ein schlechtes Zeichen. Die weit offenen Augen starrten bewegungslos in eine unbestimmte Richtung und dies änderte auch nicht als ich den Kopf ganz sorgfältig zu massieren begann um so etwas Wärme übermitteln zu können. In der Rekrutenschule hatte ich gelernt, dass man bei in Ohnmacht befindlichen Personen auch mit bedächtigem Zureden Erfolg auf ein Wiedererwachen haben konnte. Ich sagte dem weissen Gesicht, dass alles wieder zum Guten kommen wird und ich wiederholte dies unzählige Male. Ich beobachtete seine Augen in innigster Hoffnung in diesen ein Lebenszeichen zu erhaschen. Der Mann schien nicht zu atmen oder ich konnte dies mindestens nicht feststellen. Da sein Körper dicht in den Büschen verwickelt war, sah ich auch nicht ob er verwundet war oder gar Blut verlor.

Mitunter stellte ich erschreckt fest, dass meine Beine eingeschlafen und gefühllos geworden waren. Mit letzter Kraft klammerte ich mich an Grasbüscheln fest aber meine eiskalten Finger verkrampften sich und dann rutschte ich hilflos hinunter über eine Steinplatte und fiel in einen riesigen Farnstrauch der mich im letzten Moment vom endgültigen Fall in den Bach hinunter rettete. Ich verharrte einige Minuten völlig durchnässt in dieser misslichen Lage, glücklicherweise unverletzt. Dank diesen Schock durchschoss neues Blut meine Beine und mit neuem Mut kletterte ich mühsam wieder zum weissen Gesicht hinauf. Inzwischen hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich hoffte sehnlichst, dass irgendeinmal eine Ambulanz vorbeikommen würde um den Verunfallten und auch mich aus dieser prekären Lage zu befreien.
Sofort legte ich wieder eine Hand auf die Stirn des weissen Gesichts. Dabei fiel mir auf, dass die Augen geschlossen waren. Die waren doch vor meinem Abrutschen noch weit offen, oder hatte ich mich getäuscht? Oder hatte mein Angstschrei, den ich beim Weggleiten ausgestossen hatte, neues Leben entfacht? Freudig legte ich nun beide Hände auf den Kopf schüttelte ihn sachte und forderte den Verunglückten herzklopfend auf nun endlich aufzuwachen. Und dann geschah das Wunder, die Augenlieder hoben sich ein ganz wenig an und ich konnte den Glanz der Pupillen durch die Spalten sehen. Der Mann war nicht tot, er lebte! Unglaubliche Freude übermannte mich und wärmte meinen Körper auf. Vor lauter Nervosität vergass ich die Kälte, die Nässe, die Gräue, die glitschigen Grasbüschel, die von den Bäumen fallenden Regentropfen und den Tobelbach. Meine einzige Aufgabe war jetzt diesen Mann wieder voll ins Leben zurückzuholen. Ich schüttelte seinen Kopf, klaubte ihm leicht in die Wangen, fragte ihn immer wieder ob er Schmerzen verspüre, schüttelte ihn erneut und massierte seine Stirn. Ja, da war sie die kleine zuckende Bewegung seiner Lippen. Ja, er hörte mich und wollte mir bestimmt etwas sagen. Ich hielt nun seinen ganzen Kopf zwischen meinen Händen um ihn weiter aufzuwärmen, so gut das eben möglich war in meiner labilen Lage am Steilhang. Zum ersten Mal drang nun ein Laut an meine Ohren, der Mann versuchte mit aller Kraft etwas zu sagen. Ich ermutigte ihn durch kräftiges Zureden und tatsächlich seine Laute glichen immer mehr Worten, erst unverständlich und dann immer deutlicher. Seine Augen waren wieder geschlossen aber die Worte kamen immer klarer über seine Lippen. Ich war von riesiger Freude erfüllt, das Schlimmste war wohl jetzt überstanden. Und dann fragte der Mann nun schon ganz deutlich ob das Auto noch fahrtüchtig sei. Ich antwortete ihm, dass alles zum Guten kommen werde. Ob er Schmerzen hätte, wollte ich wissen. Aber erstaunlicherweise schien sein ganzes Interesse auf den Verbleib des Autos konzentriert zu sein. Und dann fiel mir plötzlich ein, dass sich im Unglücksauto vielleicht noch andere Personen befunden hatten. Sachte fragte ich ihn ob er denn allein im Auto gefahren sei. Es folgte eine lange Pause und ich befürchtete, dass der Mann wieder bewusstlos werden könnte. Aber dann kam über seine zitterten Lippen ganz schwach und kaum verständlich „Charles, Charles…“ Ich wiederholte. „Charles war mit Ihnen?“ „Ja“ war das letzte Wort bevor das weisse Gesicht wieder zur leblosen Maske erstarrte. Erschrocken nahm ich seinen Kopf in meine Hände um ihn durch Zureden wieder Leben einzuhauchen. Jegliche Reaktion blieb aus. Der Gedanke, dass der Mann möglicherweise gerade jetzt gestorben war, erschütterte mich aufs Tiefste.
Ich wusste nun, dass meine nächste Mission trotz meiner schwierigen Situation hier im Tobel dem Charles gelten musste. Trotz neueinsetzenden elenden Schüttelfrosts am ganzen regendurchnässten Körper musste ich jetzt auf die Suche nach Charles gehen. Nach einem letzten Blick auf das weisse Gesicht in der innigsten Hoffnung doch noch im letzten Moment ein Aufflackern von etwas Leben zu erheischen, begann ich den Abstieg zum Tobelbach. Nur dort unten konnte sich Charles befinden. Am gefährlichsten waren die glatten steil abfallenden Felspartien auf welchen keine Büsche oder Bäume wuchsen an denen ich mich hätte absichern können. Auf dem Bauch liegend glitt ich wieder Zentimeter um Zentimeter dem Bach entgegen. Glücklicherweise endete der Abhang nicht direkt im Wasser. Ein schmaler sumpfiger vermutlich von Fischern benützter Pfad trennte das Wasser vom Steilhang. Es war für mich eine äusserst willkommene Erholung wieder einmal aufrecht stehen zu können ohne Gefahr abzustürzen. Einige Turnübungen brachten etwas Energie zurück in meinen Körper. Ich musste keine 20 Meter dem Ufer entlang pirschen, bis ich Charles entdeckte. Er kauerte auf allen Vieren im Morast. Ein vermutlich offener Beinbruch liess Blut durch ein Hosenbein sickern. Als Charles mein Kommen wahrnahm, hob er seinen Kopf und versuchte mit aller Kraft seiner Freude Ausdruck zu geben. Ich kniete neben ihn und erklärte ihm, dass bald Hilfe kommen würde, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte wann das geschehen würde. Charles konnte sprechen und erklärte mir sogleich, dass Paul, sein Kollege, am Steuer sass als sich der Unfall ereignete. Ich erfuhr, dass er und Paul von Belgien aus auf einer Ferienreise durch Frankreich unterwegs waren. Ich versicherte Charles wieder zu ihm zurückzukommen aber dass ich jetzt nochmals Paul, der sich weiter oben befinde, helfen müsse. Ich fühlte mich nun in einer wesentlich besseren Verfassung und der Aufstieg gestaltete sich einfacher als der Abstieg zuvor.



Das weisse Gesicht von Paul war immer noch leblos. Wieder begann ich seinen Kopf zu massieren und meine Hände zur Wärmeübertragung auf die Stirn zu legen und als ich so tat, hörte ich von der Strasse her Motorengeräusche und Stimmen. Ich rief so laut ich konnte den Männern meine Position zu. Sofort begannen zwei uniformierte Polizisten den gefährlichen Abstieg zu mir herunter. Zuerst glaubten die beiden, dass ich das Unfallopfer wäre, denn ich musste in meinen nassen erdverschmierten Kleidern wirklich darnach ausgesehen haben. Aber dann entdeckten sie das weisse Gesicht und ich erklärte ihnen, dass sich auch noch ein zweites Opfer unten am Bach befinden würde. Von nun an ging alles blitzschnell. Die Polizisten funkten sofort nach oben wo sich ein Ambulanzwagen mit Samaritern bereit zum Einsatz befand. Drei weitere Männer liessen sich zu Paul hinunter abseilen. Von der Strasse her wurde ein Schlitten ebenfalls an einem Seil auf die Höhe von Paul gebracht. Paul wurde sachte aber nicht ohne Mühe aus dem Gebüsch auf diesen Schlitten verbracht und mit einer Decke am Gestell angeschnürt. Anschliessend wurde der Schlitten über die glitschige Wand bis auf die Strasse hinauf gezogen. Die beiden Polizisten waren inzwischen bei Charles angelangt und die Schlittenprozedur wiederholte sich von Neuem. Allerdings mussten jetzt wegen den sicher 100m Höhendifferenz drei Zugseile aneinander geknöpft werden um auch Charles auf die Strasse zu hissen. Ein Polizist dankte mir für die geleistete Rettungsarbeit und schon raste der Polizeiwagen gefolgt von der Ambulanz aus meinem Sichtfeld. Und dann umgab mich wieder absolute Stille. Ein letzter Blick hinunter ins Tobel auf das Autowrack erinnerte mich daran, dass diese Geschichte nicht ein Spuck sondern harte Wirklichkeit war.
NB: Da ich in meiner Aufregung vergass, von der Polizei eine Kontaktadresse aufzunehmen, habe ich nie erfahren ob Paul den Unfall überlebte oder in meiner Gegenwart starb.